„Deutschland zuerst“ blockiert Europäische Souveränität

Der Blog zwischen den Jahren – Teil 3

Anfang des Jahres 2019 wurde feierlich der Vertrag von Aachen unterzeichnet. In dem neuen Elysée-Vertrag nehmen sich Frankreich und Deutschland viel vor: „Sie setzen sich für eine wirksame und starke Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ein und stärken und vertiefen die Wirtschafts- und Währungsunion“.

Der Vertrag enthält zudem eine gegenseitige Beistandspflicht, die erheblich über die offenen Klauseln des Artikel 5 des NATO-Vertrages und den Artikel 42(7) des Vertrages über die Europäische Union hinausgeht: „Sie leisten einander im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung; dies schließt militärische Mittel ein.“ Man könnte auch sagen, fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, ist Deutschland unter den Atomschirm der Force de frappe geschlüpft.

Soweit die guten Vorsätze zu Beginn des Jahres 2019. Doch von tout en beurre zwischen Paris und Berlin kann keine Rede sein. Wohl noch nie seit dem ersten Elysée-Vertrag war das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich so schlecht wie heute. Noch nie wurde das Bemühen Frankreichs, Europas strategische Souveränität zu stärken, so brüsk zurückgewiesen wie von der Großen Koalition in Berlin 2019.

Öffentlicher Tiefpunkt war die rüde Antwort der CDU-Vorsitzenden auf die Vorschläge Emanuel Macrons für die Neubegründung eines „Europas, das schützt“ (Macron). Ob Steuern, mehr Soziales, bessere Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, zu allem sagte Annegret Kramp-Karrenbauer: Nein. Stattdessen schlug sie den Bau eines Flugzeugträgers vor – während ihr Segelschulschiff Gorch Fock noch geschrottet in Elsfleth auf der Werft lag.

Wer die Flugzeugträgeridee auf die Provinzialität einer CDU-Vorsitzenden im ersten Amtsjahr zurückführt, irrt. AKK hat nur aufgeschrieben, was inzwischen durchgängige Linie deutscher Europapolitik ist: Deutschland zuerst

Zwar hat die Kanzlerin in der Neujahrsansprache für 2020 erneut betont, „Europa muss seine Stimme stärker in der Welt einbringen“. Doch in Wahrheit wollen CDU/CSU und SPD weder eine stärkere und vertiefte Wirtschafts- und Währungsunion, noch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Für den eigenen nationalen Vorteil sind Merkel und Scholz bereit, die Souveränität Europas zu schwächen. Das hat das deutsch-französische Verhältnis zerrüttet.

Beispiel Währungsunion: Will sich die Eurozone vor Schocks wie der Finanzkrise 2009 schützen, muss sie gegen eine Krise investieren können. Es gibt in der Wirtschaftswissenschaft keinen ernsten Streit, wie groß eine solche Fazilität sein muss, um wirken zu können. Es sind zwischen 1 und 2 % des jährlichen Bruttoinlandsprodukts. Für die Eurozone mit einem BIP von rund 11,6 Billionen hieße dies, mindestens 100 Mrd. für ein Eurozonenbudget zur Verfügung zu stellen. Das war Macrons Vorschlag.

Dank der Verhandlungsstrategie des sozialdemokratischen deutschen Finanzministers einigte man sich  auf einen Betrag von 35 Mrd. – verteilt auf 7 Jahre. Das sind auf das Jahr gerechnet 0,5 Promille des BIP der Eurozone. Das ist so wirksam wie Homöopathie – nämlich gar nicht.

Das Verwässern von Vorschlägen bis zur Wirkungslosigkeit war aber noch die höflichere Form des Umgangs von Deutschland mit Frankreich.

Gegen Frankreich setzte Deutschland im Rat ein Verhandlungsmandat der EU für ein Investitionsabkommen mit den USA durch. Frankreich hatte Verhandlungen über Agrarprodukte ebenso ausschließen wollen, wie es Handelsabkommen mit Ländern ablehnt, die aus dem Pariser Klimaabkommen ausgestiegen sind. Also die USA. Macron hatte hier die Rückendeckung des Vertrags von Aachen, mit dem Deutschland und Frankreich „die Berücksichtigung des Klimaschutzes in allen Politikbereichen“ sicherstellen wollten. Deutschland war aber die Verhinderung von Zöllen auf Autos wichtiger als der globale Klimaschutz. Die Bundesregierung zog dies gegen Frankreich durch.

Noch rustikaler agierte die Große Koalition von Union und SPD bei der Digitalsteuer. Als Antwort auf die US-Steuerreform, die Milliarden in die USA spülte, wollte die EU-Kommission Umsätze digitaler Plattformen in Europa besteuern. Schließlich verdienen Amazon und Google hier damit Geld. Dafür gab es eine Mehrheit im Europaparlament. Auch eine Mehrheit der Mitgliedstaaten wollte die Steuer. Doch Merkel und Scholz organisierten eine Sperrminorität. Sie verhinderte, dass die Mehrheit von Rat und Parlament dem Kommissionsvorschlag zur Gesetzeskraft verhalf.

Das Motiv auch hier – die Exportinteressen der deutschen Industrie. Weil Merkel und Scholz immer noch glauben, sie könnten Trump beschwichtigen, setzen sie auf eine Politik des Appeasements – sei es bei Steuern oder beim Handel.

Oder sei es beim Atom-Abkommen mit dem Iran. Dieses Abkommen steht faktisch vor dem Aus. Nachdem Donald Trump dieses für die europäische Sicherheit, aber auch für die Stabilität im Nahen Osten, so wichtige Abkommen einseitig gekündigt hatte, versprachen die restlichen Vertragspartner Großbritannien, Frankreich, Deutschland und die Europäische Union trotzdem daran festzuhalten. Es lieb ein leeres Versprechen. Grund ist die Inaktivität Deutschlands bei der Zweckgesellschaft Instex. Sie sollte dem Iran wieder Geschäfte ermöglichen, schaffte aber auch nach anderthalb Jahren keine Testüberweisungen.

Dabei wäre ganz anderes notwendig – und besonders im deutschen Interesse. Die US-Sanktionen gegenüber dem Iran und Russland offenbaren die komplette Hilflosigkeit der EU als größter Binnenmarkt der Welt und ihrer fast anderthalb Milliarden Bewohner. So wenig wie Europa eine Antwort auf die Iran-Sanktionen finden wollte, so wenig hat es den US-Sanktionen gegen Nord Stream 2 etwas entgegenzusetzen.

Das mag beim Iran ökonomisch noch verschmerzbar sein, ein daraus folgendes atomares Wettrüsten in Nahost bedroht aber Europas Sicherheit existentiell. Und noch haben die US-Sanktionen nicht den gesamten Energiesektor Russlands auf Korn genommen. Das wäre eine massive Bedrohung der Versorgungssicherheit eines Europas, das noch immer riesige Mengen Gas, Öl und Kohle aus Russland importiert. Endgültig aber mit dem Rücken an der Wand stünde besonders Deutschland, wenn die USA ihre Sanktionspolitik auf China ausdehnen würde.

Es ist also mehr als überfällig, den Euro zu einer echten globalen Zweitwährung auszubauen, um die einseitige Abhängigkeit vom Dollar zu lockern. Doch eine globale Währung, auf die es keine Anleihen gibt, funktioniert nicht. Und wer ist aus borniertem Austeritätsfetischismus noch immer gegen Eurobonds? Deutschland.

Europa wird wegen Trump und wegen der strukturellen Überdehnung der USA gezwungen werden, bestimmte Sicherheitsaufgaben vor seiner Haustür – in Libyen, im Sahel – selbst zu lösen. Aber niemand glaubt im Ernst, dass die Bundeswehr das im Alleingang kann.

Das kann nicht einmal Frankreich allein. Weshalb sie Deutschland anfragten. Doch während Frankreich das Kommando Spezialkräfte wollte, möchte Kramp-Karrenbauer eine „robuste Ausbildungsmission“ entsenden. In beiden Fällen wird es eine echte Herausforderung werden, dies völkerrechtlich legitimiert und in einem System kollektiver Sicherheit zu organisieren.

Die bittere Wahrheit ist: wir haben es heute mit drei großen revisionistischen Kräften zu tun – dem aufsteigenden China, dem aufgeblasenen Russland und den absteigenden USA. Trotz all ihrer Unterschiede ist ihnen eins gemein: sie wollen die multilateralen Strukturen durch bilaterale Vereinbarungen zu ihrem jeweiligen Vorteil ersetzen. Die politische und ökonomische Souveränität Europas in einer multipolaren Welt gegen diese drei revisionistischen Großmächte zu verteidigen, dafür ist selbst Deutschland ökonomisch allein und Frankreich militärisch allein zu schwach. Dagegen hilft nur eine stärkere europäische Souveränität.

Deshalb muss sich die Bundesregierung von ihrem Deutschland zuerst verabschieden. Nicht nur zu Neujahr ist es richtig, dass Deutschland wichtigstes strategisches Interesse Europa ist. Kurzfristige nationale Sonderinteressen dürfen nicht der strategische Souveränität Europas übergeordnet werden.

Der gute Vorsatz für Merkel und Scholz zum Jahresbeginn 2020 sollte sein, das zerrütte Verhältnis zu Frankreich zu kitten. Den Vertrag von Aachen auch werktags mit Leben zu erfüllen, wäre dafür eine gute Grundlage.

Image by HAPPY NEW YEAR *** S. Hermann & F. Richter from Pixabay

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